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Das Rätsel des Opfers
Eine Geschichte wie ein Naturgesetz
Angelika Brauer
Ulrich Woelk läßt die Leser seines Romans „Freigang" nicht lange im Ungewissen. Schon auf der ersten Seite gesteht Frank Zweig, die Hauptfigur mit unverkennbar autobiographischen Zügen: „Schreiben als Funktion des Gedächtnisses. Ich schreibe, um Nina noch einmal zu erleben." Ein mutiges Bekenntnis. So richtig dazu geeignet, Vorurteile zu schüren und mißtrauisch zu machen: junger Autor, Erstveröffentlichung, autobiographisch, Liebesgeschichte ... Das kann, wie man weiß, entsetzlich peinlich sein.
Für den Roman von Ulrich Woelk gilt das nicht, und wer die erste Seite nur genau genug liest, kann den aufkeimenden Verdacht sofort selbst entkräften. Denn ein Autor, der „Schreiben als Funktion des Gedächtnisses" bezeichnet, wird sich wohl kaum hemmungslos den sentimentalen Erinnerungen an eine Liebesgeschichte überlassen. Hier spricht der Naturwissenschaftler, der Physiker Ulrich Woelk. Von den wenigen Informationen, die es über ihn gibt, ist damit die wichtigste schon genannt. Der dreißigjährige Autor hat in Tübingen Physik studiert, arbeitet seit drei Jahren an der Technischen Universität in Berlin als Astrophysiker - und dokumentiert diese naturwissenschaftliche Profession mit jeder Zeile. Denn in jeder Zeile seines Romandebüts zügelt er seine - trotzdem spürbare - Freude am Erzählen durch seinen Anspruch naturwissenschaftlicher Eindeutigkeit. Ulrich Woelk schreibt auffallend nüchtern und präzise, dabei aber mit einer solchen Intensität, ja Detailbesessenheit, daß vor dem Leser Bilder von fotografischer Genauigkeit entstehen (…)
Was soll passieren? Natürlich das insgeheim Ersehnte. Frank Zweig, der sich auf die Eigenschaften eines Plastikbechers konzentriert, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres auf der Welt, hält sich in der Cafeteria auf, weil er hofft, die dunkelgelockte Nina hier wiederzusehen. Das Herzklopfen des Wartenden - ob sie wohl kommt? Es ist schon erstaunlich, daß Ulrich Woelk nie davon spricht und es doch vermittelt - das Gefühl, das er immer nur sachlich beschreibt. Immer nur dann, wenn es zum Vorschein kommt. Als Körpersprache. Als nervöses Hantieren an einer Kerze, wenn das Ersehnte wahr wird und Frank Zweig an einem Kneipentisch Nina endlich gegenübersitzt (…)
Frank Zweig, der sich schreibend an seine Liebe zu erinnern versucht, befindet sich als Patient in einer Klinik. Seit einem Nervenzusammenbruch - am Ende der Beziehung - sitzt er hier in einem Krankenzimmer und kämpft einen erbitterten Kampf gegen Früger, seinen behandelnden Arzt. Er kämpft, weil er, der erklärte Naturwissenschaftler, über Frügers psychotherapeutische Methoden nur das vernichtende Urteil fällen kann: „Psychologie ist Forschung nach Gusto, nicht nach Gesetz." Weil er sich dementsprechend gegen eine „Biographie aus psychotherapeutischer Massenproduktion" mit Entschiedenheit verwahrt: „Ich will keine Geschichte von der Stange." Und weil er folglich beschlossen hat, die Therapie zu unterwandern.
Eine der verschiedenen Formen seines Widerstands ist die Rekonstruktion der Geschichte mit Nina, die der Patient gerade in ihrer Alltäglichkeit im Kampf gegen Früger einsetzen will: „Ich werde Früger einen Strich durch die Rechnung machen. Er wird bekommen, was er erwartet: Geschriebenes. Doch es wird ihn enttäuschen. Es wird eine Geschichte sein, die sich so oder ähnlich bereits millionenfach ereignet hat, eine Geschichte wie ein Naturgesetz." Die aber wird, gekonnt mit einer zweiten verzahnt, dadurch sogar spannend. Mit sicherem Gespür wechselt Ulrich Woelk die Szene immer dann, wenn die Unterbrechung das Interesse an der Fortsetzung steigert. Und ebenso souverän weiß er, wann der Wechsel von Klinikalltag und Beziehungsgeschichte durch weitere Geschichten, durch Träume, Erinnerungen, Phantasien, unterbrochen werden kann - ohne auf Kosten der Durchsichtigkeit des Ganzen zu gehen, an der ihm selbst schon aus Prinzip am meisten gelegen ist.
Auf diese Weise hat Ulrich Woelk einen Roman geschrieben, der systematisch und locker, nüchtern und phantasievoll und damit so eigentümlich und originell ist, daß er zu Recht mit Begeisterung aufgenommen und kürzlich mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet worden ist. Breite Zustimmung also auf Seiten der Kritiker und Leser, und Vorbehalte nur dort, wo sie in der Regel nicht erwartet werden, von Seiten des Autors: „Schreiben, sagte ich, ist auf Dauer keine sinnvolle Beschäftigung für einen Physiker, weil sich die Präzision der Sprache nicht beliebig steigern läßt" Das erinnert an Hofmannsthals Lord Chandos, für den bekanntlich das Leiden am Wort, das die Sache nicht trifft, zum Anlaß wurde, sich vom Metier zu verabschieden. Der Dichter Lord Chandos verstummt. Hoffentlich zieht der Physiker Ulrich Woelk nicht die gleiche Konsequenz.